Unter dem Titel, “Der Mensch als Verbrecher” (Die Leuchtrakete, 1927) wurde von dem berühmten Mediziner Cesare Lombroso eine Schrift herausgegeben, die sich mit der von ihm vertretenen Theorie des geborenen Verbrechers beschäftigte. Diese - aus heutiger Sicht - unseriöse und pseudowissenschaftliche Annahme enthielt auch einige Überlegungen bezüglich der Tätowierkunst, welche im europäischen Kulturkreis nicht selten auf Randgruppen projiziert wurde und ein meist negativ behaftetes Image trug. Tatsächlich wollte Lombroso Tattoos als Hinweis auf einen gewissen Hang zur Kriminalität verstanden wissen, bei Frauen zur Prostitution. Geflissentlich vermieden hatte Cesare Lombroso dabei den Umstand, dass der in die Haut gestochene Körperschmuck auch zu seinen Lebzeiten bereits von der Hocharistokratie längst entdeckt worden war und Persönlichkeiten wie Zar Nikolaus von Russland, oder die berühmte Kaiserin Elisabeth von Österreich sich damit zierten. Und diese leuchtenden Beispiele waren wohl kaum die ersten. Während der ersten französischen Revolution war es durchaus gängige Praxis, Tattoos wie “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” auf dem Arm oder in der Herzgegend zu tragen. Diese Tattoos mussten später im Falle eines Gesinnungswechsels oder politischen Aufstiegs (man erinnere sich an Napoleon I.) wiederum verdeckt werden. 1
Hinzu kamen allerlei kuriose Erzählungen von stark tätowierten Menschen, die nicht selten im Zirkus oder ähnlichen Institutionen auftraten und deren Lebensgeschichten durch diverse Mythen und Geschichten zur Unterhaltung des Publikums noch zusätzlich ergänzt wurden. In diesem Zusammenhang wäre der Franzose Jean Baptiste Cabri zu nennen, der viele Jahre auf den Marquesa Inseln verbracht hatte und fast vollständig tätowiert war. 2
Eine reine Fantasiegeschichte beschreibt hingegen die, im späten 19. Jahrhundert durchaus bekannte Mär von dem Griechen Tzavalles der in China gefangen wurde (wahlweise auch in Russland) und fast vollständig gegen seinen Willen tätowiert worden war. Ein gewisser Senior Mendoza in Mexiko wiederum ließ sich sein Testament auf die Brust, einen Zusatz auf den linken Arm tätowieren, um vor Fälschungen sicher zu sein. Beide Körperteile verbarg er angeblich Zeit seines Lebens und bestand aus diesem Grund auch auf ein eigenwilliges Baderitual.
Am 6. Februar 1912 erschien in der Illustrierten Kronen Zeitung der Hinweis, dass sich die Geschwister Rivalli im Prater zeigen würden, die ebenfalls vollständig tätowiert waren. Vater Rivalli, ein Schiffskapitän, strandete 1880 vor Burma, wurde von der einheimischen Bevölkerung aufgenommen und erlernte im Lauf der Zeit die Kunst des Tätowierens, welche er nach seiner Rückkehr nach New York weiter ausübte und teilweise weitergab.Berichtet wird von über zwei Millionen Nadelstichen, die er bei seinen beidem Kindern gesetzt haben soll. Sein eigener Körper trug mehr als 200 Darstellungen, Pflanzen, Tiere, Blumen und Menschen. 3
“Amerikanische Damen hatten die Idee, sich zur Frisur die Wangen zu tätowieren. Aber das ist noch nichts: Sie verstreuen im Haar winzige elektrische Lampen, welche den Kopf mit einer Aureole von Licht umgeben. Die Londoner Friseure praktizieren neuerdings ein Verfahren, das Lippen und Wangen unvergänglich rot färbt; Das Verfahren kostet allerdings nicht weniger als 300 Schilling für die Lippen und 800 für die Wangen. Und es ist sehr schmerzhaft”, vermeldete das Magazin “Frisierkunst der Mode” im Jahre 1928 in Wien. Tatsächlich etablierte sich die Mode des Tätowierens seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend, entwickelte sich von einem Phänomen einzelner gesellschaftlicher Gruppen, wie beispielsweise Soldaten oder Seefahrer, zu einem breiten Trend, der, aus dem angloamerikanischen Raum kommend, auch auf Mitteleuropa rasch übergriff.
Naturgemäß waren körperliche Eingriffe mit einem gewissen Gefahrenpotential behaftet und wurden auch im 19. Jahrhundert als Quelle von Infektionen und Ansteckungen gesehen. An Warnungen fehlte es nicht. Letztlich hing das Risiko von der Arbeitsweise des Tätowierers ab, wobei sich von höchst professionell arbeitenden Meistern, beispielsweise aus Japan stammend, bis hin zu mit Stricknadeln arbeitenden Hobby-Tätowierern im 19. Jahrhundert unterschiedlichste Abstufungen nachweisen lassen. Dass die verwendeten Farben zudem keinerlei Kontrollen unterlagen und man als Kunde in aller Regel nicht wusste, welche Mittel einem unter die Haut gespritzt wurden, versteht sich in diesem Zusammenhang von selbst. “In Paris benutzte ein populärer Tattookünstler, der allgemein Vater Remy genannt wurde, folgende Technik: Das Instrument besteht aus 2 verbundenen Nadeln, die, wie die Spitze einer Feder den Farbstoff festhalten und die er mit unglaublicher Schnelligkeit in die Haut sticht. Diese Doppelnadel dient für die Umrisse und die Hauptlinien. Für die Schattierung werden 3 Nadeln benutzt. Es sind dies sehr feinen Sticknadeln Nr. 12. Die blaue Farbe wird mit chinesischer Tinte, die rote mit sehr feinem Zinnober hervorgebracht. Vater Remy ist ein gewesener Seemann und jetzt 62 Jahre alt. Eigentlich ist er “Zettel- und Prospekt Zusteller", sagte er, das Tätowieren ist ein Nebengeschäft. Er meinte, dass der Prinz of Wales auf dem rechten Arm ein Kreuz und Marie von Chartres, die Tochter des Herzogs von Chartres, einen Anker auf der rechten Schulter tätowiert haben”, schrieb der St. "Pöltner Bote” am 27. März 1892.
Von besonderer Bedeutung war zudem auch der umgekehrte Weg, also das Entfernen altmodischer, kompromittierender oder auch politisch nicht mehr opportuner Tattoos. Neben Alkohol, Milch, Terpentin und diversen Säuren setzte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Kombinationsmethode durch, die - von manchen Medizinern sogar unterstützt - einen gewissen Erfolg versprach. Beim “Entpeuterungsdoktor” wurde die betroffene Hautstelle mit einer Mischung aus Säuren, Glycerin und Gerbstoffen eingerieben, durch eine Folie möglichst Luftdicht abgedeckt und durch einen Verband geschützt. Nach fünf bis sieben Tagen war die entsprechende Hautstelle soweit gegerbt, dass sie vom Unterhaut-Bindegewebe abgezogen werden konnte, und damit auch das Tattoo verschwand.
Auch bei dieser Methode wurde den Patienten gerne unterschlagen, dass die Prozedur weder ungefährlich noch schmerzfrei war und Folgeschäden auftreten konnten. Zumindest allerdings war allgemein bekannt, dass der Entpeuterungsdoktor zwar ein Sprech- und Behandlungszimmer hatte, aber kein echter Mediziner war. In aller Regel verbargen sich hinter den Herren Doktoren, die gerne auch im weißen Kittel auftraten, Tätowierer, die sich auf das Entfernen der ungeliebten Kunstwerke spezialisiert hatten.
Tätowierungen lassen sich auf allen Kontinenten nachweisen und sind wohl beinahe so alt wie die Menschheit selbst. Auf dem Körper des Eismanns “Ötzi” lassen sie sich ebenso finden wie im alten Ägypten oder Rom. Werden Tattoos in westlichen Ländern zumeist als Körperschmuck empfunden, versteht sich die reiche Symbolik in anderen Kulturen als gesellschaftlich, religiös oder auch medizinisch relevant. Und so manches Symbol erschließt sich einem erst durch den Blick in die kulturelle Vergangenheit.