Marie Tropsch - Die vergessene Zeugin

Mit dreiundzwanzig Jahren wurde Kaiser Franz Joseph Ziel eines Attentats in Wien. Diese Episode berichtet davon, wie ein kleines Mädchen maßgeblich dabei half, dem Kaiser von Österreich das Leben zu retten, und nach langen Jahren in Vergessenheit nun endlich seinen Platz in der Geschichte bekommt.

Am 14. Oktober 1909 lässt sich in dem allerhöchsten Terminkalender Franz Josephs eine eigentümliche Abweichung feststellen, die für den, an Pragmatismus und Pünktlichkeit so sehr festhaltenden Kaiser, eine äußerst wichtige Angelegenheit bedeutet haben musste.

Zeitungscover: Marie Tropsch zur Audienz  bei Kaiser Franz Joseph
Marie Tropsch zur Audienz bei Kaiser Franz Joseph

 Diese Audienz war eingeschoben worden, und für fünfzehn Minuten angesetzt  - eine überaus großzügige Zeitspanne, bedenkt man, dass durchschnittliche Generalaudienzen in der Hofburg kaum mehr als fünf Minuten zu dauern hatten.

Es handelte sich dabei weder um einen offiziellen Würdenträger, der seine Aufwartung machen wollte, noch um ein Familienmitglied, oder sonst eine Person von Rang und Namen. An jenem Vormittag quälte sich nur eine alte Frau die lange Kaiserstiege zu den Prunkräumen der Hofburg hinauf, mit einem kleinen, Perlen besetzten Anhänger in der Hand. Franz Joseph hatte darauf bestanden, die betagte Dame in dem einfachen, schwarzen Kleid zu sehen, und auch an dem Schmuckstück zeigte er ein gewisses Interesse. 1

Die ganze Geschichte wirkte höchst eigentümlich, und sollte den Kaiser zu einem der vielleicht dunkelsten Augenblicke seiner Regentschaft zurückführen. In eine Zeit, als die Bastien noch standen, die Revolution aber längst gefallen war, und er Absolutismus sich in dem jugendlich-frischen Gesicht Franz Josephs eine neue Larve gefunden hatte.

Über den Mordanschlag, der am 18. Februar 1853 auf Franz Joseph verübt wurde, ist im Laufe der Zeit viel geschrieben worden. Graf O´Donell, vor allem aber der Fleischhauer Josef Ettenreich, waren über Nacht zu Helden geworden. Ettenreich, schon durch seine äußere Erscheinung als Archetyp des Wiener Bürgers vortrefflich zu inszenieren, fand zudem als Fanal des österreichischen Patriotismus vielfach Anwendung in der Propagandamaschinerie der Habsburger. Es wurde viel gefeiert, viel geehrt und viel gedankt. Mit der Votivkirche errichtete man zudem eines der beeindruckendsten neugotischen Bauwerke der Stadt.

Für Marie Breiteneder hingegen, die an jenem kalten Februarmorgen ebenfalls auf der Kärntnertor-Bastei unterwegs war, blieb im kollektiven Gedächtnis des imperialen Österreich kein Platz.  Kein Wunder also, dass sich auch heute niemand mehr an das dürre, kleine Mädchen erinnert, wenn man von dem Messerattentat auf Franz Joseph erzählt, und der Rolle, die es am Ausgang der ganzen Geschichte gespielt hat.

“Es näherte sich Johann Libenyi nach schnell aufgeknöpftem Oberrocke, und dem unter demselben verborgenen Mordinstrument zuerst vorsichtig der allerhöchsten Person des Monarchen, sprang dann, wahrhaft nach Tigerart, mit einem Satze, und das Mordwerkzeug in der rechten Hand schwingend, rücklings gegen Seine Majestät, und versetzte Allerhöchst Demselben, unter Anwendung aller ihm zu Gebote stehenden Kraft mit der Spitze des Messers einen so gewaltigen Stoß auf das Hinterhaupt, dass die Klinge einen Zoll lang aufwärts schief gebogen ward. Im Beginne, noch weitere Stöße gegen das geheiligte Haupt seiner Majestät zu führen, ward er glücklicher Weise durch den Herren Obersten Grafen O´Donnell rasch zu Boden gerissen, sodann von dem hiesigen Bürger Josef Ettenreich, vollends überwältigt, und mittelst der herbeigerufenen Militär-Patrouille zur Haft gebracht”, verkündete die offizielle Kundmachung, welche schon kurze Zeit nach dem Anschlag allerorts im Reich veröffentlicht wurde. 2

Zweifellos war Ettenreich seinem Kontrahenten, dem ungarischen Schneidergesellen Janos Libenyi, in jenen kritischen Momenten an Körperkraft und - masse überlegen, so dass es nach kurzem Gerangel gelang, den Attentäter am Boden zu fixieren. Adjutant Graf O' Donnell, der nach dem ersten Angriff Libenyis blank gezogen hatte, brachte den blutenden Kaiser nun in Sicherheit, gefolgt von einer gaffenden Menge, die stetig anwuchs. Niemandem allerdings war in den Sinn gekommen, die Sicherheitskräfte zu alarmieren, oder Ettenreich zu unterstützen. So sah sich der Fleischhauer seinem rabiaten Gegner mit einem mal vollkommen alleine gegenüber, und dieser demonstrierte gerade jetzt wilde Entschlossenheit, sich freizukämpfen.

Auch die elfjährige Marie war Teil dieses Menschenknäuels geworden, welches sich durch den Umstand, dass ein Kaiser bluten kann, rasch auf der Mauer gebildet hatte. Doch während die Erwachsenen aufgeregt durcheinander sprachen, die Hände zusammenschlugen und sich gegenseitig im Weg standen, ging sie auf Ettenreich zu, der zunehmend Mühe hatte, Libenyi am Boden zu halten.
"Lauf, hol die Wache", rief er ihr zu, "so schnöll das' t konnst!"
Und sie lief. Die Bastei entlang, ohne sich umzudrehen, bis in die Walfischgasse, wo es ein Wachzimmer gab. Dort riss sie die Türe auf und schrie die ins Kartenspiel vertieften Polizeisoldaten an, dass sofort jemand kommen müsse, da auf der Bastei gerauft werde, und der Kaiser verwundet sei.
Die diensthabenden Wachleute - allesamt aus Galizien - setzten sich zwar in Bewegung, sprachen allerdings kein Wort Deutsch, und machten zunächst Anstalten, gleich alle Beteiligten mit den aufgepflanzten Bajonetten zu traktieren. Wieder ergriff Marie die Initiative, stellte sich schützend vor Ettenreich, und versuchte den Sachverhalt mit Händen und Füßen aufzuklären, bevor es zu spät sein würde. Schließlich konnte Libenyi abgeführt werden.

“Nachdem Johann Libenyi dieser fluchwürdigen Handlung gerichtlich geständig wurde, so ward er durch das kompetente kriegsgerichtliche Urteil zum Tode durch den Strang verurteilt.
Nach geschlossener Untersuchung wurde dem Mörder das Urteil Donnerstag Mittags vorgelesen. Er erschien zu diesem Zwecke im Verhörszimmer des Polizeihauses. Die Fenster und Türen wurden geöffnet, und im Hofe schlugen die Tambours vor der Publikation den üblichen Ruf”, schrieb die Wiener Zeitung am 27. Februar 1853 in einer Abendausgabe.
Johann Libenyi wurde also nach dem Kriegsrecht, welches seit 1848 immer noch Gültigkeit  hatte, zum Tode verurteilt, und ohne weitere Verzögerung am 26. Februar bei der Spinnerin am Kreuz hingerichtet. Beendet war die Geschichte damit jedoch nicht. Wie die Protokolle zeigen, hatten die Behörden zweimal fünfzehn Stockhiebe angeordnet, um alle relevanten Informationen von dem Delinquenten zu erhalten. An die zwanzig Männer aus dem Umfeld des Attentäters wurden verhaftet, und über ein Jahr in Untersuchungshaft behalten. Josef Saskiewics, Josef Vaybel und Johann Misits allerdings, denen man ideologische Nähe, sowie Mitwisserschaft tatsächlich nachweisen konnte, wurden zu zwanzigjähriger Schanzarbeit in schwerem Eisen verurteilt.

Von besonderer Qualität präsentiert sich darüber hinaus eine Anordnung übereifriger Militärs, die später aus dem Gedächtnis der Allgemeinheit möglichst gelöscht werden sollte, und heute weitgehend vergessen ist. Um weitere, potentielle Attentäter einzuschüchtern, ersann man eine drastische Kollektivstrafe für die kleine Ortschaft Csakvar, den Geburtsort Libenyis. An strategisch günstiger Position wurde eine Kanone in Stellung gebracht, um das Dorf zu beschießen. Der Tod von Frauen und Kindern war einkalkuliert. Franz Joseph selbst soll die Aktion in letzter Sekunde erbost untersagt haben.   

Die überaus rasche Aburteilung des Attentäters Libenyi lässt sich zwar mit der Anwendung des Kriegsrechts in Einklang bringen, verhinderte jedoch nicht das Aufkommen diverser Gerüchte über die wahren Hintergründe der Tat. Im Gegenteil. Besonders hartnäckig hielt sich die Vorstellung eines Verbrechens aus Eifersucht, wobei der fesche Kaiser von Österreich je nach Version die Frau, Schwester, Mutter oder Cousine Libenyis verführt haben soll. Zu Beginn der 1920er Jahre kursierte zudem die Geschichte von Margit Libenyi, welche Franz Joseph im Zuge einer Csardas Vorführung den Kopf verdreht haben soll, und den stolzen Bruder Johann dadurch zur Weißglut brachte.

Bei genauerer Betrachtung allerdings ergeben sich rasch Zweifel. Wie herausgefunden werden konnte, hießen die beiden Schwestern Libenyis Elisabeth und Rosalia. Eine heißblütige Margit hatte das kleine Dorf nicht zu bieten. Da der Lebensweg beider Schwestern rekonstruierbar ist, lässt sich weder in Elisabeth, noch in Rosalia jene geheimnisvolle Margit erkennen, die einst im Wiener Prater so wild Csardas getanzt haben soll.

Die Wiener reagierten - wie auch bei vielen anderen Skandalen - mit Spottliedern auf das tragische Ereignis. Und auch diesmal nahm man bei dem Genius Johann Nestroy Anleihe, um zwischen den Zeilen mehr sagen zu können, als das politische System eigentlich zuließ.
“Auf der Simmeringer Had, hat´s an Schneider verwaht”, gaben die Gassenjungen allerorts zum Besten, und drückten so vor allem in der zweiten Zeile durch den Satz "es gschicht ihm scho recht, warum sticht er so schlecht" genüsslich  jene unterschwellige Abneigung gegen das System aus, welche offiziell keinesfalls geäußert werden durfte. Dass der Schneider in Wirklichkeit nicht auf der Simmeringer Haide den Tod fand, blieb indes der künstlerischen Freiheit geschuldet. 

Jenen Tag, der Josef Ettenreich zum Helden der Nation werden ließ, beendete  Marie

Marie Tropsch, Zeugin des Attentats auf Kaiser Franz Joseph mit Hut
Marie Tropsch

Breiteneder übrigens mit einer Tracht Prügel. Zunächst ließen sich die braven Schulschwestern der Ursulinerinnen nicht so recht überzeugen, dass Maries zu spätes Erscheinen in der Schule mit dem Kaiser von Österreich zu tun hatte, und quittierten die vermeintlich freche Lüge mit Bankknien. Als die aufgeweckte Mizzi am Abend dem Vater von ihrem Abenteuer erzählen wollte, setzte es zudem Ohrfeigen. Zwar hatte sich die Geschichte vom Attentat bereits herumgesprochen, doch fürchteten die Eltern Maries, dass das Mädchen durch zu viel  Aufmerksamkeit eitel und arrogant werden könne. Selbst das Vorsprechen Ettenreichs bei dem Vater konnte kein Umdenken bewirken. Die Rolle des Kindes wurde totgeschwiegen, Ehrungen für die Tochter abgelehnt.

Offensichtlich bekam man bei den Ursulinerinnen aber doch ein schlechtes Gewissen, denn nach der Verifizierung der angeblichen Lüge überreichte man Marie einen kleinen

Anhänger in Herzform, den sie Zeit ihres Lebens mit sich führen, und viele Jahre später dem gealterten Kaiser während ihrer Audienz präsentieren sollte. Franz Joseph bedauerte, dass  erst fünfzig Jahre hatten vergehen müssen, bis es zu diesem Zusammentreffen gekommen war. Als Andenken an diesen Tag wurde Marie Tropsch, wie sie inzwischen hieß, ein großes, silbernes Kreuz, welches in einen Onyx Sockel eingearbeitet war, zum Geschenk gemacht. 3

Wenige Monate später starb sie, als letzte Augenzeugin des Attentats auf Kaiser Franz Joseph. Der aber saß immer noch an seinem Schreibtisch.
 

  • 1Wiener Bilder, 1910
  • 2Zeitung, 18. Februar 1853
  • 3Maria Tropsch und die Audienz bei Kaiser Franz Joseph I. am 14. Oktober 1909, Philipp Georg Ilming, Diplomarbeit, 2019