Besonderes Vergnügen bereitete es der alten Dame, die Meisen auf dem Fensterbrett zu beobachten, wie sie emsig nach den Körnern pickten, auf und ab hüpften, sich frech um das ausgestreute Futter balgten. Die possierlichen Tiere hatten bald jede Scheu vor Marie verloren und wurden in diesen letzten Lebensjahren zu ihren besten Freunden in der Arnulfstraße. Zu diesem Zeitpunkt hatte Marie Meyers die Siebzig längst überschritten, litt an den Folgen des zunehmenden Alters ebenso wie an jenen eines strapaziösen, von Entbehrungen gezeichneten Lebens. Nur ihren Humor, für den sie bekannt war, besaß sie noch. „Die alte Schiffsschraube“, die „alte Laterne“, wie sie sich selbst gelegentlich bezeichnete, machte in diversen Artikeln und Schriften immer noch von sich reden, sorgte in der Presse der 1930er Jahre zumindest von Zeit zu Zeit noch für ein wenig Aufregung.
Denn bis zu ihrem Lebensende war Marie Meyers, die in einem früheren Leben Marie Gräfin Larisch-Wallersee geheißen hatte und als Nichte Kaiserin Elisabeths von Österreich in die Geschichte eingehen sollte, bestrebt, Rehabilitation zu erfahren. Marie Larisch hatte ihre Rolle in der Affaire Mayerling, jenem skandalösen Treiben, das zum Selbstmord des Kronprinzen von Österreich führen sollte, Zeit ihres Lebens versucht zu relativieren, den allgemein anerkannten Lauf der Dinge stets in Frage gestellt.
Nach dem Tod des Kronprinzen Rudolf und Baronesse Mary Vetseras in dem kleinen Jagdschlösschen Mayerling wurde Gräfin Larisch rasch zu einer Persona non grata degradiert, sie ging ihrer exklusiven Stellung am Wiener Hof verlustig und musste Österreich unverzüglich verlassen. Marie, die zwar kein Palais in Wien für intime Treffen besessen hatte, wie man später gern behauptete, hatte die siebzehnjährige Mary Vetsera in ihren Bestrebungen, den Kronprinzen zu sehen, allerdings doch unterstützt und maßgeblich zum Lauf der Dinge beigetragen. Und Marie hatte in den nachfolgenden Verhören gelogen. Dies lässt sich aus heutiger Sicht bei genauer Betrachtung des vorhandenen Quellenmaterials eindeutig feststellen.1
Nach dem Tod ihrer Mutter, der bürgerlichen Schauspielerin Henriette Mendl, und der erneuten Eheschließung ihres Vaters, Herzog Ludwigs in Bayern, Kaiserin Elisabeths älterer Bruder, war „jene Gräfin Larisch“, wie sie schon bald in der Öffentlichkeit abwertend genannt wurde, tatsächlich auf sich allein gestellt. Eine jahrelange Odyssee durch die Untiefen unterschiedlichster gesellschaftlicher Schichten sollte folgen, Marie, die niemals gelernt hatte mit Geld umzugehen und keine adäquate Berufsausbildung besaßt, widmete sich dem Beschreiben ihrer aristokratischen Vergangenheit in Buchform.
Erste Bestrebungen dieser Art lassen sich schon zu Beginn der 1890er Jahre finden, das österreichische Kaiserhaus reagierte nervös. Kaiser Franz Joseph, dem die Aktivitäten seiner ungeliebten Nichte durchaus nicht verborgen blieben, ließ auch im benachbarten Bayern durch Spitzel und Vertraute Informationen über Marie Larisch Bestrebungen einholen, bald schon befasste sich eine ganze Kommission mit dem Thema. Das besondere Interesse des österreichischen Kaiserhauses an den Memoiren und Schriften der Larisch scheint verständlich, besaß Marie im Unterschied zu vielen anderen Autoren, die reine Fantasiegeschichten in Form von klassischer Schund- und Unterhaltungsliteratur ablieferten, doch tatsächlich Originaltexte der Kaiserin von Österreich.
Neben Gedichten und Märchen, wollte Marie Larisch auch einige Briefe brisanteren Inhalts von Elisabeth besessen haben, auch bezüglich des Ablebens Kronprinz Rudolfs behauptete sie stets, den alles erklärenden Brief ihres Cousins zu dem Thema zu besitzen, der nach ihrem Tod veröffentlicht werden sollte (was nie geschah).2
Maries erstes Buch mit dem Titel „Mispah“ wurde vom Kaiserhaus ohne umschweife aufgekauft, eine Veröffentlichung fand niemals statt. Marie trat alle Rechte an dem Werk an das österreichische Kaiserhaus ab und unterzeichnete eine umfangreiche Verzichtserklärung, welche auch zukünftige Werke miteinschloss. Halten sollte sich Marie Brucks, wie sie durch Eheschließung mit dem Kammersänger und Theaterdirektor Otto Brucks mittlerweile hieß, daran allerdings nicht.
Neben ihren Büchern lassen sich Spuren ernsthafter künstlerischer Arbeit ab den 1920er Jahren auch in der Stummfilmbranche ausmachen. Die ehemalige Gräfin schrieb für das damals erfolgreiche Genre des Historienfilms Drehbücher und Vorlagen, fungierte als Beraterin und Trainerin der Schauspieler. In der Rolle der Gräfin Marie Larisch spielte sie sich sogar selbst.
Als einschneidend entpuppten sich die Lebenserfahrungen Maries ab Mitte der 1920er Jahre durch die Zweckehe mit William Henry Meyers. Dieses Wagnis, ist durch den Zusammenbruch der österreichischen Monarchie und dem Wegfall jeder finanziellen Unterstützung zu verstehen. Der mehrjährige Aufenthalt in den USA entwickelte sich zum Desaster, geraume Zeit verbachte die ehemalige Gräfin unter anderem in einem Holzschuppen in Florida, umgeben von Moskitos, Flöhen und wilden Tieren, wie sie schrieb. Nach der Trennung von ihrem Mann findet sie in New York als Nichte einer österreichischen Kaiserin zumindest so viel Anteilnahme, dass eine Rückreise nach Deutschland 1929 finanziell möglich war. Wieder begann sie zu schreiben, versuchte ihre Vergangenheit wirtschaftlich zu nutzen. Besonders ihre Schriften jener Jahre sind als historische Quellen mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, es sollte allerdings Erwähnung finden, dass vieles davon nicht sie persönlich, sondern ein amerikanischer Ghostwriter mit ihrer Erlaubnis verfasst hat, und die Texte auf ein amerikanisches Publikum zugeschnitten wurden. Zudem hatte Marie diese Publikationen vor deren Veröffentlichung in aller Regel nicht zu Gesicht bekommen.3
Trotz allem blieb Marie, ehemalige Gräfin Larisch, ihrer Sicht der Dinge treu. Eine Zusammenarbeit mit der äußerst zweifelhaft agierenden Gräfin Karoline Zanardi-Landi (siehe auch die entsprechende Podcast Folge) in diesen späten Jahren belegte Maries Irrungen und Wirren. Immer wieder will sie durch Interpretation der Schriften ihrer kaiserlichen Tante Belege für uneheliche Kinder Kaiserin Elisabeths von verschiedenen Vätern gefunden haben und konstruierte große Skandale im ehemaligen Kaiserhaus, die selbst in wenig kaisertreuen Kreisen als unrealistische Fantasiekonstrukte abgelehnt wurden. 4
Bis zu ihrem Lebensende blieb Marie Meyers, wie sie sich aus Gründen des Schutzes ihrer Privatsphäre nannte, schriftstellerisch aktiv, wälzt Pläne, unterhält Korrespondenzen und Kontakte. Im Jahr 1940 schließlich starb die Nichte der österreichischen Kaiserin verarmt und einsam in Augsburg. Eine Rehabilitation blieb ihr versagt, bis heute erinnert man sich vornehmlich an „jene Gräfin Larisch“, die das Desaster von Mayerling mitzuverantworten hatte. Nur wenige Menschen wissen, dass ihr Leben sehr viel länger war.