Wer die Gerichtsreportagen las, wer in den Tageszeitungen die überaus reichhaltigen Kolumnen rund um das kriminelle Treiben in der brodelnden Großstadt Wien studierte, der kannte ihn. Albin Haberda, Doktor der Medizin, geschätzter Gerichtsgutachter, und Spezialist für die ganz besonderen, die geradezu undenkbaren Fälle, welche sich dem Verstand jedes normal veranlagten Menschen schlicht entziehen mussten.
Haberda schrieb Expertisen zum Thema Kindstötung und Abtreibung, drang mit seinen Untersuchungen tief in die abgründige Welt familiärer Gewalt vor, und gab seine Erfahrungen als Professor im Zuge von Lehrveranstaltungen am Institut für gerichtliche Medizin weiter.
An jenem 30. Dezember 1898 allerdings waren es keine Studenten, die sich im Landesgericht Wien eingefunden hatten, um Haberdas Ausführungen zu lauschen. Richter saßen dort auf den Bänken, Staatsanwälte, und andere honorige Personen aus den Reihen der Juristerei. Man hatte Haberda stante pede aus dem Urlaub zurückbeordert, um einen Fall zu untersuchen, wie es ihn in Wien seit Ewigkeiten nicht mehr gegeben hatte.
“Meine Herren”, stellte der Professor unumwunden fest, “ausgeschlossen darf werden, dass die Tat von einem Fleischer begangen worden sein soll! Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass der Mörder ein absolvierter Mediziner ist. Denn nur ein Mediziner, der schon mehrere Obduktionen mitgemacht hat, kann die Schnitte und Eingriffe in so kunstgerechter Weise vorgenommen haben.”
Haberdas Ausführungen fraßen sich in die Köpfe der Menschen. Genau dies hatte man nicht hören wollen - viel lieber wäre man in den Worten des Gerichtsgutachters einem grobschlächtigen, rohen Kerl begegnet, einem dumpfen Unmenschen, der sich vielleicht im Vollrausch vollkommen vergaß, um tun zu können, was er mit der armen Frau letztlich auch getan hatte. So aber sah man sich einem völlig anderen Phänomen gegenüber, und es dauerte keinen Tag, bis die Presse Verbindungen konstruierte, nach London, in das Jahr 1888.
“Die Art des Mordes an Francesca Hofer erinnert frappant an den Londoner Frauenmörder Jack the Ripper”, schrieb das Grazer Tagblatt, und sprach damit öffentlich aus, was Viele sich heimlich dachten. Gefasst worden war dieses unheimliche Phantom in den verdreckten Straßen Whitechapels nicht, womit es bereits eine Gemeinsamkeit zu dem Frauenmörder in Ottakring gab. Die extreme Grausamkeit, mit welcher der Täter über die Prostituierte Francesca Hofer hergefallen war, repräsentierte eine weitere Ähnlichkeit, derer man sich mit Schaudern vergewissert hatte. (Grazer Tagblatt, 1. Jänner 1899)
Auch wenn derartigen Spekulationen von offizieller Seite wenig Beachtung geschenkt wurde - Wien lebte in Furcht. Vor allem die Gefallenen und Verlorenen, wie man sie so schön nannte, die Straßendirnen in den armseligen Nachtcafes, sahen sich einem namenlosen Schrecken ausgesetzt, und weigerten sich zunehmend, ihrer Profession in den Hinterhöfen und Kabinetten der Zinsburgen nachzugehen. Wie angespannt die Situation im Milieu tatsächlich war, belegte der wenig beruhigende Umstand, dass nur wenige Stunden nach dem Vortrag Dr. Haberdas ein weiterer Frauenmord in Wien geschah, in der Nacht des 31.12.. Während die Menschen das Jahr 1899 willkommen hießen, kämpfte die Prostituierte Anna Spilka in einem Hinterzimmer auf der unteren Weißgerberstraße verzweifelt um ihr Leben. Der Mörder würgte sie, um schließlich mit einem Taschenmesser mehrmals zuzustechen. Diesmal aber, handelte es sich nicht um ein namenloses Phantom, das ungesehen in die Nach entschwand. Denn just in dem Moment, als der Täter flüchten wollte, betrat Maria Dittmann die Wohnung. Auch sie gehörte dem ältesten Gewerbe der Welt an, und war ihrer Freundin in einer dunklen Ahnung nachgegangen. Die Spilka hatte mehrmals großes Unbehagen geäußert, in diesen Nächten arbeiten zu müssen, und so hatten die Mädchen beschlossen, sich gegenseitig zu beschützen.
Jetzt stand sie vor ihm, dem großen, breitschultrigen Mann, der Blutflecken an den Händen hatte, und ebenso überrascht zu sein schien, wie die Dittmann selbst. Mit einem heftigen Stoß beförderte der Unbekannte die Frau zur Seite und war verschwunden.
Später gab Marie Dittmann an, laut “Mord, Mord” geschrien zu haben, wodurch sich eine Gruppe von Hausbewohnern rasch an die Fersen des Unbekannten heftete. Auf der Strasse gesellten sich weitere Leute hinzu, Zuhälter wie Freier jagten nun den Verdächtigen. Und noch während Anna Spilka auf dem Fußboden ihres Kabinetts verblutete, wurde der Täter in einer Seitengasse gestellt.
Mit Prellungen, Blutergüssen und einem ausgeschlagen Zahn wurde Simon Schosteriz schließlich von der Rettungsgesellschaft aus der tobenden Menge geborgen. Vernehmungsfähig war er zunächst nicht, was allerdings auch übermäßigem Alkoholkonsum zuzuschreiben war. Erst am kommenden Tag startete das offizielle Verhör, und ganz Wien harrte gespannt der kommenden Ergebnisse.
Dass Simon Schosteriz eine Prostituierte namens Spilka umgebracht hatte, daran bestand kein Zweifel. Dass er auch die Hofer auf dem gewissen hatte, ließ sich indes nicht ohne weiteres nachweisen. Schosteriz war groß und kräftig, ein grobschlächtiger Kerl mit breiten Schultern,der gerne dem Alkohol zusprach, und als wenig romantische Natur bekannt war. Beruf: Fleischhauer.
Genau so aber hatte man sich den offensichtlich von Perversion getriebenen Mörder der Francesca Hofer vorgestellt, und die Behörde versuchte nun alles, um den grauenhaften Frauenmord in Ottakring mit dem Fleischhauer von der Weißgerberstraße in Verbindung zu bringen.
Simon Schosteritz gestand die Tat an Anna Spilka, erzählte von einem Streit ums Geld, von gegenseitigen Provokationen, und der Wut, die in ihm hochstieg. Getötet worden war die Spilka jedoch in vollkommen anderer Weise - ihr Körper wies keine Verstümmelungen auf, und Schosteriz hatte an jenem Abend nur ein kleines Taschenmesser mitgeführt. Nicht genug, um so präzise Schnitte zu setzen, wie Francesca Hofer sie erlitten hatte.
Der Frauenmord in Ottakring blieb ungeklärt. Bis heute. Presse und Volksmund ergingen sich weiter in wilden Spekulationen, Jack the Ripper, von dem ein Gerücht behauptete, er wäre Deutscher gewesen, spukte weiterhin in den Köpfen der Menschen durch Wien.
Simon Schosteriz zumindest wurde zu sechs Jahren schweren Kerkers verurteilt. Er starb allerdings schon wenige Monate nach Antritt der Haft. (Wiener Bilder, 1. Jänner 1899)