Als Anna Nahowski im Jahre 1889 vor den Generaldirektor des habsburgischen Familienfonds tritt, um eine kaiserliche Zuwendung in der Höhe von 200 000 Gulden in Empfang zu nehmen, kann es der ausführende Beamte kaum glauben. Anna jedoch wirkt an jenem Vormittag souverän, pariert all die neugierigen Fragen des Direktors mit Bravour und verweist auf den Umstand, dass sie selbst die Höhe der Summe bestimmen darf - innerhalb gewisser Grenzen, die Kaiser Franz Joseph äußerst großzügig gezogen hat. Für jedes ihrer Kinder erbittet sie 50 000 Gulden als Absicherung. Letztlich verlässt sie die Wiener Hofburg mit umgerechnet 3,4 Millionen Euro. Anna Nahowski, die in ihrem 30. Lebensjahr steht, bereits die zweite, schwierige Ehe zu meistern hat, und den Kaiser in ihrem Boudoir empfing, ist eine gemachte Frau.
Sechzehn Jahre hat sie ungesehen und unbemerkt an der Seite des mächtigsten Mannes von Österreich verbracht, ein durchaus eigenwilliges Verhältnis mit ihm geführt, um im Jahre 1889 ohne Vorwarnung der Gunst des Potentaten verlustig zu gehen. Warum Kaiser Franz Joseph die junge Frau ohne Erklärung fallen ließ, ist nicht vollständig zu eruieren. 1889 ist auch jenes Jahr, in welchem der Kronprinz von Österreich – Kaiser Franz Josephs Sohn – in Niederösterreich Selbstmord begehen wird. Eine Katastrophe für das Kaiserhaus. Aber schon geraume Zeit vor diesem Schicksalsschlag, spätestens wohl ab 1885, sind auch andere Kräfte am Werk, andere Frauen, die des Kaisers Aufmerksamkeit zunehmend in Anspruch nehmen. Die Burgschauspielerin Katharina Schratt gewinnt an Bedeutung in seinem Leben – der sonst wenig theateraffine Franz Joseph versäumt plötzlich keine Aufführung mehr, solange die Schratt darin vorkommt. Eine Erklärung für des Kaisers zunehmend offenen Umgang mit Katharina Schratt mag in der Rolle einer weiteren Frau zu suchen sein, seiner Frau, die den Kontakt ihres Mannes mit dem Theaterstar durchaus fördert. Im Gegensatz zu Anna Nahowski, die stets im geheimen agiert, „ihren“ Kaiser im wahrsten Sinne des Wortes bei Nacht und Nebel empfängt, und auf höchste Diskretion gedrillt wird, betritt die Schratt die Wiener Hofburg schon bald ganz offiziell. Und Kaiserin Elisabeth ist sich dessen wohl bewusst.
Wahrscheinlich wäre der Name Nahowski dem kollektiven Gedächtnis Österreichs längst entschlüpft, hätte Anna nicht ein Tagebuch geschrieben, welches lange Jahre nach ihrem Tod (und dem Zusammenbruch der Monarchie) publiziert wurde. Sie schildert darin ihr erstes Zusammentreffen mit dem Kaiser von Österreich ebenso wie ihre gescheiterte Ehe mit einem von Spielsucht und Alkohol geplagten Seidenfabrikanten, ihre geheimen Treffen mit Franz Joseph, seine zuweilen schrullige, unbeholfene Art, aber auch jene Episoden, in denen der Kaiser von Österreich sein ritterliches und höfliches Image überraschend ablegt.
Von besonderem Interesse sind bei solchen Büchern naturgemäß jene Stellen, in welchen die Erotik in den Vordergrund tritt. Anna Nahowski lehrt uns, dass auch ein Kaiser von Österreich stürmisch sein kann, aufdringlich sogar, und durchaus zielstrebig in seiner Absicht, das begehrte Wesen ins Bett zu bekommen. Dass Franz Joseph Unterwäsche trägt, die er aus Gründen der Gewohnheit wie der Sparsamkeit ebenso seit dreißig Jahren sein Eigen nennt, erfahren wir nebenbei auch. Anna Nahowski stört sich an solchen Kleinigkeiten nicht. Als geübte Hausfrau, die insgesamt zwei tyrannische Ehemänner zu ertragen hatte, bietet sie auch einem Kaiser das naheliegendste in solch einer Situation an: Das unersetzbare Wollleibchen einfach zu stopfen.
Das Tagebuch der Anna Nahowski darf als Ergänzung zu der überaus umfangreichen Kaiser Franz Joseph Literatur verstanden werden, manövriert es uns als einzige Quelle doch vorbei an Politik und Militär, direkt in das Liebesleben des alternden Monarchen. Darin aber liegt auch die Problematik dieses Buches. Denn die einzige Quelle zu Anna Nahowski ist und bleibt Anna Nahowski. Und betrachtet man das Buch etwas genauer, so werden zumindest in Bezug auf die zeitliche Abfolge bestimmter Ereignisse Diskrepanzen deutlich. Am 8. Mai 1875, so berichtet uns Anna zum Beispiel, habe die erste Begegnung mit dem Kaiser von Österreich im Schlosspark Schönbrunn stattgefunden. Tatsächlich aber befand sich Kaiser Franz Joseph zu diesem Zeitpunkt auf einer Reise in Dalmatien.
Die Geschichte rund um die ungleiche Liebe des Kaisers von Österreich mit der Bürgerstochter muss allerdings kein Schwindel sein. Das Tagebuch ist in seinem Aufbau nicht kontinuierlich, Anna Nahowski macht ihre Einträge nicht regelmäßig. Manchmal liegen Wochen oder gar Monate dazwischen. Hinzu kommt der Umstand, dass die junge Frau einige Ereignisse nachträgt. Hat sie sich mit dem Datum vielleicht geirrt? Oder manches erst geraume Zeit später nachgetragen?
In jedem Fall repräsentieren die schriftlichen Hinterlassenschaften Anna Nahowskis Einblicke in ein Frauenleben des späten 19. Jahrhunderts. Reizlosen Ehemännern unterstellt, ist ihr Leben von familiären Konflikten geprägt, von Schwangerschaften, Fehlgeburten, Kindererziehung und persönlichen Enttäuschungen. Zeit ihres Lebens wird Anna, die fünf Geschwister und ihren Vater bereits als Kind sterben sah, von Verlustängsten geprägt sein. Ihr Verhältnis zu Männern ist gespalten. Mit fünfzehn Jahren wird sie verheiratet, der inzwischen fünfundvierzigjährige Kaiser von Österreich ist jedoch nicht der einzige Interessent an dem jungen Backfisch. Immer wieder berichtet Anna Nahowski von Belästigungen und der Angst vor Übergriffen. Allein möchte sie jedoch nicht durchs Leben gehen.
1931, lange Jahre nach dem Tod des Kaisers, wird Anna im Alter von 71 Jahren sterben. Auch ihren zweiten Mann, Franz Nahowski, hat sie überlebt. Ob dieser von der Affäre seiner Frau mit dem Kaiser von Österreich wusste, bleibt ungeklärt. Sie litt unter seiner Eifersucht. Er ertränkte seinen Kummer beim Heurigen. Woher das viele Geld kam, hat er nie gefragt.1
Für den gesamten Text wurde folgende Quelle verwendet:
Friedrich Saathen (Hg.), Anna Nahowski und Kaiser Franz Joseph, Aufzeichnungen, Wien/Köln/Graz 1986.